Herzensbrief
Einige Jahre hatte sie den Brief immer bei sich getragen – nahe am Herzen, wenn möglich. Sie hatte das kleingefaltete Kuvert sorgfältig von einer Jackentasche in die andere umgepackt. Manchmal mitten am Tag danach getastet. Darin gelesen hatte sie irgendwann nicht mehr, sie erinnerte sich auch nicht mehr an die Worte. Es reichte zu wissen, dass er da war. Das Papier war mit der Zeit weich geworden, die Kanten aufgescheuert, die Tinte an manchen Stellen verwaschen, von Regen und Schweiß. Es kam nicht mehr darauf an. Der Brief war zu einem Symbol geworden; irgendwann ging es auch ohne ihn. Das Gefühl blieb.
Bekommen hatte sie den Brief damals, als sie nicht wusste, wie es weiter gehen sollte. Allein in der fremden Stadt, weit weg von zu Hause, vor ganz neuen Herausforderungen stehend. Der Brief ihrer Großmutter hatte ihr damals Kraft und Mut gegeben, das Gefühl, dass da wenigstens ein Mensch vorbehaltlos an sie glaubte und auf ihrer Seite war. Natürlich war die Großmutter inzwischen längst gestorben, aber die Erinnerung an sie war mit diesem Gefühl verbunden und mit dem Brief von damals. Ein Herzensbrief! Ein Brief von Herz zu Herz. Was wohl darin gestanden hat?
Briefe damals und heute
Das Briefeschreiben ist ja etwas aus der Mode gekommen. Inzwischen gibt es so viele andere Möglichkeiten, schnell und unkompliziert miteinander in Kontakt zu kommen. Telefon, Email, Sprachnachrichten… Und trotzdem hat ein handgeschriebener Brief oder eine sorgfältig ausgewählte Karte für viele noch ihren besonderen Reiz. Man kann sie anfassen, ihn immer wieder lesen, aufbewahren. Es ist eben ein ganz persönlicher Gruß.
Zur Zeit des Paulus waren Briefe fast die einzige Möglichkeit, über weite Distanzen miteinander zu kommunizieren. Sie wurden Mitarbeitenden und Freunden mitgegeben, um sie sicher zu ihren Adressaten zu bringen, sie wurden sorgfältig aufbewahrt und wieder und wieder gelesen.
Die Briefe des Paulus wurden sicher bei den Versammlungen der Gemeinden, die er als Apostel gegründet hatte, laut verlesen und besprochen. Sie sind keine Kurznachrichten, sondern teils theologische Traktate, teils Zeugnisse davon, wie der Apostel sich seelsorglich um seine Gemeinden bemüht, ihre Sorgen wahrnimmt und sie trotz räumlicher Trennung weiterhin begleitet und fördert.
So auch die Briefe, die nach Korinth gingen. Über viele Jahrhunderte hinweg sind diese Briefe als Teil des Neuen Testaments auf uns gekommen, wieder und wieder gelesen, abgeschrieben, abgedruckt, wissenschaftlich untersucht, diskutiert und gepredigt. Ein Stück aus dem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth liegt uns heute vor. Dort schreibt der Apostel:
(Lesung des Predigttextes, 2. Korinther 3(2.)3-8, nach der Übersetzung der Baisibibel: „Unser Empfehlungsschreiben seid doch ihr…“).
Das Empfehlungsschreiben des Paulus
Ein Herzensbrief. Eine originelle Liebeserklärung des Apostels an seine Gemeinde. Ein Brief, der zu Herzen gehen und die Herzen der Korinther wieder neu für ihn erwärmen soll.
‚Ihr selbst seid doch mein Empfehlungsschreiben! Durch euch erklärt Christus selbst, wer ich bin und wofür ich stehe und wie wertvoll mein Dienst am Evangelium ist. Und dieses Empfehlungsschreiben, nämlich euch, trage ich immer in meinem Herzen. Wo ich auch bin, denke ich an euch als einen wertvollen Schatz.‘
Im Hintergrund steht die in der griechisch-römischen Antike weitverbreitete Praxis, Empfehlungsschreiben auszustellen. Wer Kontakt zu jemandem suchte, egal ob in privaten oder geschäftlichen Angelegenheiten, ließ sich durch gemeinsame Bekannte empfehlen. So als vertrauenswürdig und fähig ausgewiesen, konnte man leichter ins Gespräch kommen und eine tragfähige Beziehung aufbauen. In der korinthischen Gemeinde waren christliche Missionare angekommen, die sich durch solche Briefe auf andere Gemeinden und Missionare berufen haben.
Dadurch ist die Frage aufgekommen, warum Paulus solche Briefe nicht vorweisen konnte, und auch die Korinther nicht gebeten hat, ihm solche Briefe mitzugeben. Ist er etwa nicht gut vernetzt? Oder ist gar zu stolz, sich auf andere zu berufen? Ist das Urteil der Korinther ihm nichts wert? Eine Entfremdung zwischen dem abwesenden Paulus und der Gemeinde bahnt sich an, die er versucht, durch seinen Brief zu entschärfen und zu verhindern.
‚Ihr seid mein Empfehlungsbrief! Ihr selbst seid der Ausweis, an dem alle erkennen können, wie Gott durch mich wirkt. Christus selbst hat diesen Brief ausgestellt und der heilige Geist hat ihn lesbar gemacht. Bei Gott vertraue ich darauf, dass er selbst mich befähigt und empfiehlt und mir ein positives Zeugnis ausstellt. Andere Empfehlungen brauche ich nicht.‘
Die Gemeinde
Was steht nun in diesem Brief, den alle Welt lesen soll? Er handelt vom Leben in der christlichen Gemeinde in Korinth, die Paulus gegründet hat. Er berichtet von ihrer Gemeinschaft, von ihrem Glauben an Gott, von ihrer Beziehung zu Jesus Christus, von ihrem Gebet im heiligen Geist. Von ihrem Suchen und Fragen nach dem richtigen Weg und ihrem Wachsen im Glauben.
All das ist nicht allein durch die Missionstätigkeit des Paulus entstanden. Natürlich hat er bei ihnen gepredigt, von Jesus erzählt, die Schrift ausgelegt, von seinen persönlichen Erfahrungen berichtet. Natürlich hat er mit ihnen gebetet, das Brot mit ihnen gebrochen und sie gelehrt, einander in Liebe zu dienen. Manche sagen, in alle dem wirkte er schwächer als andere – weniger wundermächtig, weniger geisterfüllt. Und doch ist ja sichtbar etwas Neues durch ihn entstanden.
Die Korinther haben es selbst erlebt. Ihre Gemeinde selbst, die es vorher nicht gab, ist durch die Mission des Paulus und das Wirken Gottes entstanden. Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, unterschiedlicher ethnischer Herkünfte und unterschiedlicher Religionen haben sich zusammengefunden. Gottes Kraft hat sich in seiner, Paulus‘ Schwachheit mächtig erwiesen und hat Neues entstehen lassen: Eine Gemeinde, die sich in Christus vereint, ermutigt und bestärkt weiß. Davon handelt der Brief, und diese Empfehlung kann niemand leugnen – vor allem nicht die korinthischen Christinnen und Christen selbst.
Paulus ist ein Apostel im Wettstreit der Meinungen und auch im Wettstreit der christlichen Missionare. Er versucht sich zu behaupten und die Beziehungskrise zwischen ihm und den korinthischen Christen abzuwenden. Daneben erinnert er sie aber auch daran, was ihnen selbst im Glauben wertvoll geworden ist. Ihr Zusammenleben ist geprägt vom lebendigen Geist Gottes, der es durchfließt und bestimmt. Diese Erfahrung strahlen sie aus, geben sie an andere weiter, sodass diese davon lernen und profitieren können, Stärkung und Ermutigung erfahren. Die Christinnen und Christen in Korinth sind selbst zum Teil der Botschaft, Teil der Bewegung des Evangeliums geworden, das die Herzen anrührt und bewegt – bis heute.
Weltposttag
Einer der vielen kuriosen und weitgehend unbekannten Gedenktage war in der letzten Woche der Weltposttag am Mittwoch. Vielleicht folgen Sie dem Beispiel des Paulus und schreiben mal wieder einen Brief. Wer könnte Trost Ermutigung oder Inspiration brauchen? Was ist Ihnen zu Herzen gegangen und könnte einem anderen dienlich sein? Ein Brief von Herz zu Herz kann mit Gottes Segen etwas bewirken.